Aus dem Alltag eines Stimmprofis

ein Blog von Dominic Richter

Der alltägliche (Praxis-)Wahnsinn

Dienstag 8:00 Uhr. Ich erwache von sanftem Grillenzirpen, mein Wecker bringt mich aus dem Land der Träume zurück an den Start in einen aufregenden Tag. Ich atme tief ein, strecke alle Viere von mir und gähne herzhaft. Übung Nr. 1 des Tages: Abgehakt. Es geht doch nichts über dieses Gefühl von Weite im Rachenraum, ganz davon ab, dass die Kehlkopfaufhängung direkt aktiv wird. Schön.

[…]

9:45 Uhr. Mit einem von daheim mitgebrachten Kaffee in der Hand betrete ich das Treppenhaus der Praxis. Ich wähle den Lieferanteneingang, verschaffe mir über die Kellertür Zutritt zum Souterrain des Stimmkontors, wo mich meine Kollegen Michael und Chris mit einem lautkräftigen „Moin“ in Empfang nehmen.

Wir klären das Neueste und alles Relevante für den Tag, welche Patient*innen erscheinen heute tatsächlich und wie sieht mein Plan denn bisher ansonsten aus?

An dieser Stelle bin ich erneut sehr dankbar für die Arbeit des Kollegen in der Administration, ohne den mein Tag wahrscheinlich ein Vielfaches an organisatorischen Telefonaten beinhalten würde, Zeit die ich so direkt am Patient*in verbringen kann. Ich suche mir die entsprechenden Akten heraus und ordne sie. Der Plan ist voll und ich schreite zur Tat.

Da klingelt es an der Tür. Patient*in Nr.1 von 8 steht vor der Tür und verlangt Einlass.

Nach kurzem Empfangsgespräch auf dem Flur und der Frage, ob es ein Glas Wasser oder eine Tasse Tee sein darf, betreten wir den Therapieraum, die Kontrolle der Hausaufgaben und die Klärung etwaiger Unklarheiten die im Zuge derer offensichtlich wurden, stehen auf dem Programm.

Stimmkontor Hannover - Stimme Therapie Übung

Uns erwartet eine Einheit zum Thema:

„Wie beginne ich adäquat in eine gesprochene oder gesungene Phrase, ohne wie so oft vor dem ersten Ton zu denken: mal schauen was gleich kommt…“

Innerhalb des Übungsprogramms geht es vor allem darum, einen adäquaten Atemdruck und den kontrollierten Stimmschluss zu erüben. Das ist gar nicht so leicht und verlangt der übenden Person ein Höchstmaß an Konzentration und Eigenwahrnehmung ab. Wenn dann jedoch sämtliche Parameter ineinander zu greifen beginnen und sich dieses Gefühl von Kontrolle und „Ich bekomme das ohne große Anstrengung hin!“ einstellt, zahlt sich die Mühe direkt aus.

Heute wirdmen wir uns dem direkten oder auch „glottalen“ Stimmeinsatz. Man spricht in der Gesangspädagogik nicht selten von „harten“ Stimmeinsätzen. Dieser Begriff führt jedoch bei ungeübten Stimmnutzer*innen nicht selten assoziativ zu überhöhtem Stimmdruck und einer festen Stimme.

Die Patient*in stellt hüftschmahl parallel aufrecht mitten in den Raum, schließt die Augen, bereitet die Artikulation vor (wir üben auf /ä/ und /i/), schließt die Stimmritze (Glottis) und produziert danach drei kurze /ä/s /i/s, wobei der letzte Laut ins Legato überführt (ausgehalten) wird.

WICHTIG: die drei Laute sollten allesamt gleich klingen, also mit dem gleichen Maß an Luft versorgt werden, ohne das die Artikulationsstellung verändert wird. Hätten Sie vermutet, dass die Zungenposition im Mundraum und ihre muskuläre Spannung den gesamten Laut signifikant in Farbe und (Intonations-)Qualität zu beeinflussen vermögen? Ich bin immer wieder fasziniert davon, wie kleinschrittig und fein wir unsere Stimme allein über diesen Parameter steuern und tunen können.

Um die Synchronisation zwischen Stimmschluss und einsetzender Phonation herzustellen, begleiten wir den Prozess mit einer federnden Bewegung aus dem Handgelenk, prellen einen imaginären Ball oder werfen drei Dartpfeile auf kurze/weite Distanz.

Wir übertragen letztendlich die erübten technischen Inhalte auf Bill Withers „Ain’t no Sunshine“. So intensiv die Erarbeitung der Techniken und Inhalte sein mag, so großartig ist das Gefühl, wenn der Transfer leicht fällt und sich Spaß an der Umsetzung einstellt! Und für diese Momente brenne ich als Stimmprofi.

[…] mit einem Lächeln auf den Lippen und voller (stimmlicher) Power verlässt die Patient*in das Kontor, ich schließe die Tür mit einem saftigen „RUMS“. Jetzt noch die Dokumentation, Lüften und Vorbereitung des Raumes, dann darf es weiter gehen.

Stimmkontor Hannover - Stimme Therapie Übung

An diesem Tag sollten mir noch vier Patien*innen mit verschiedenen Dysphonien, ein Teenager mit  fehlerhaftem Schluckmuster, ein Patient mit MS und ein Mensch mit einer Aphasie über den Weg laufen.

Für sie alle stehen ganz individuelle Stunden auf dem Plan, angepasst an die Bedigungen und Voraussetzungen, welche sie an diesem Tag mitbringen.

19:00 Uhr. Es klingelt mehrmals, die Sänger*innen des Kontor-Chors stehen vor der Tür. Aber dies ist ein anderer Aspekt meiner Arbeit und möchte zu einem anderen Zeitpunkt erzählt werden.

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